Die letzte Fahrt der „Aimée“

Rheindampfer Aimée, 1914
Rheindampfer Aimée, 1914

[Rheinprovinz, August 1914] Die Mobilisierung lief an. Fast überall war die Atmosphäre aufgeheizt; die Kriegsbegeisterung fegte alle anderen Emotionen hinweg, aus Freunden und Bekannten wurden Feinde.

Im patriotischen Überschwang zogen unzählige Menschen durch die Straßen, schwenkten schwarz-weiß-rote Fahnen des Kaiserreichs und brachten Hochrufe aus.

Deutschland, Deutschland über alles!

Ausländisch klingende Namen wurden schnell geändert, und überall witterte man Spione, feindliche Agenten, die das Trinkwasser vergiften wollten, und denunzierte sogar unbescholtene Nachbarn. Und da wollte Familie Bergmann mit familiären Verbindungen ins Elsass ihr Schiff lieber dem Roten Kreuz zur Verfügung stellen als dem Militär!

Für Lottie, Susan und Marie war das schwer zu ertragen. In tiefer Trauer um Sophie und der Sorge um Matthias, Hans und Etienne stach ihnen dieser Hurrapatriotismus ins Herz. Oft gingen Lotties Gedanken zu ihrem Vater Andras und ihrem Bruder Joscha; auch er war im wehrfähigen Alter. Lottie wusste wohl, wie schlecht es um das österreichisch-ungarische Heer bestellt war. Auch in Wien rechnete kaum jemand mit einem langen Krieg, mit den Serben würde man recht schnell fertig. Doch Russland und Serbien waren Kriegsgegner, die beide in modernen Kriegen gestanden hatten.

Schlimme Nachrichten

Seit Tagen waren Hans und Etienne nun unterwegs, und noch immer hatte Susan keine Nachrichten von ihnen, und die Angst um die beiden überwältigte sie. Einige Tage später stand ein älterer Offizier in der Tür. Susan kannte ihn, er war in Bonn stationiert und schon einmal auf der „Aimée“ mit ihnen gefahren. Sie spürte sofort, dass er schlimme Nachrichten brachte.

Hans und Etienne hatten das Schiff an Koblenz, Mainz, und Wiesbaden vorbei gebracht. Doch kurz vor Straßburg hatte die „Aimée“ kurz anhalten müssen, um ein anderes Schiff vorbei zu lassen. In der aufgehetzten Stimmung auf beiden Seiten des Rheines sahen viele in jedem den Feind. Offenbar glaubten einige, die Besatzung wolle das Schiff mit dem französischen Namen dem Feind übergeben, wen man auch immer dafür hielt. Hans wollte noch rufen, dass er kein Feind war, dass sie die „Aimée“ dem Roten Kreuz übergeben wollten. Dann war von irgendwoher ein Schuss gefallen, Hans wurde getroffen. Etienne war zu ihm geeilt, und auch ihn traf eine Kugel tödlich.

„Mein tief empfundenes Beileid“, sagte der Offizier. „Ich möchte Sie nicht drängen, doch holen sie die beiden bald heim. Ich ahne, was auf uns zukommt, und weiß Ihre Absicht zu sehr zu würdigen. Aber viele Leute sind nicht mehr sie selbst und möchten nur noch möglichst viele Feinde tot sehen.“

Abschied von Hans und Etienne

Joscha Csabany war gleich herbeigeeilt; mit dem Nachtzug aus Budapest, wie er sagte. Er trug die graue Uniform eines k.u.k. Hauptmanns. Mit Emil Bergmann machte er sich auf den Weg nach Straßburg. Die Uniform und sein Diplomatenpass halfen, die sterblichen Überreste von Hans und Etienne schnell und ohne Fragen in ihre Heimat zu überführen. Sie wurden in aller Stille begraben.

Tagelang war Susan wie versteinert, sie sprach nicht, schlief nicht, aß nicht und fand keine Tränen. Obwohl sie mitten unter ihnen war, schien sie am Leben nicht mehr teilzuhaben. Marie, ihre Eltern, Lottie und Jakob waren immer in ihrer Nähe – zurückhaltend, als wollten sie Susan allein durch ihre Anwesenheit Halt geben, ohne sie zu bedrängen. Worte konnten sie nicht trösten. Endlich sprach Susan. „Ich hätte bei ihm sein sollen“, sagte sie leise. „Dann wäre Marie jetzt Vollwaise“, sagte ihr Vater, „das hätte Etienne nicht gewollt.“

Hauptmann Joscha Csabany

Schon bald musste Joscha wieder fort. „Sie haben auch Dich eingezogen“, sagte Lottie bedrückt zu ihrem Bruder, „doch wenigstens musst Du nicht an die Front.“ „Ich weiß nicht, ob ich froh darüber sein soll“, antwortete Joscha traurig, „mein Herz ist bei den vielen armen Burschen da draußen. Für unsere Bauern ist die Mobilmachung mitten während der Ernte ein furchtbares Unglück. Alles ist nun der Militärverwaltung unterstellt, und uns brauchen sie an anderer Stelle dringender. Unser Landgut wird Etappe, wir sollen so gut es geht mithelfen, die Truppen und die Leute in unserem Umkreis zu versorgen. Das Haus wird ein Regenerationslazarett, dazu kommt eine Feldpoststation und draußen ein Übungsplatz. Dann sollen wir alle Betriebe mobilisieren, mit denen Mama zusammengearbeitet hat, sie sollen nun Uniformen herstellen. Es fehlt hinten und vorne an allem.“

Bedrückt verabschiedete er sich von allen. „Ich bin für Euch da, was auch kommen mag“, sagte er zu Susan und Marie, „wir alle sind für Euch da. Ihr seid nicht allein.“

Mithelfen an der Heimatfront

Marie umarmte ihn spontan. „Aber Du bist allein dort in Ungarn“, sagte sie. Joscha war bewegt. „Viele Männer sind fort, fast jede Familie musste einen Ehemann, Sohn, Bruder oder Verlobten ziehen lassen“, sagte er, „sie alle beten und hoffen, dass ihre Lieben heil nachhause zurückkommen. Geblieben sind nur die Alten, die Frauen und eben Papa in Wien und ich. Da muss ich einfach mithelfen, und ich bin nicht ganz so allein, wenn Du mir schreibst.“

„Wir werden auch mithelfen“, sagte Marie tapfer, „der Vaterländische Frauenverein mich gleich angesprochen, sie brauchen jetzt jeden, der sich auf Logistik versteht. Jakob und ich haben schon geplant, auch bei ihm gibt es eine Suppenküche.“ Der alte Herr nickte traurig. „Seien Sie beruhigt. junger Graf“, sagte er, „so gut ich das hinbekomme soll es geschehen“. Nun lächelte Susan unter Tränen. „Das musst Du nicht alleine hinbekommen, Jakob“, sagte sie, „das Kochen übernehme ich.“

Mit einer letzten Umarmung für Familie und Freunde machte sich Joscha auf den Rückweg.

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