Briefe an die Front

Brüssel 1914
Brüssel 1914

[Rheinprovinz, 1914/15] Seit einigen Wochen war Lotties Mann Matthias nun fort. Noch immer begeisterten sich die Zeitungen an den vielen Kriegsfreiwilligen. Zu Tausende zogen sie hinaus, um für das Vaterland zu kämpfen.

DIe Zeitungen veröffentlichten Warnungen an „unsere Krieger an der Westfront“: vor den Hinterhalten in französischen Häusern, die Falltüren in den Keller hätten und Wandschränke mit Hohlräumen, dazu die Absynthflaschen. All dies, so hieß es, wäre Ausdruck des „hinterhältigen Wesens der Franzosen“.

„Komm‘ uns heil nachhause“

Jede Siegesmeldung wurde bejubelt: 9. August Lüttich, 20. Brüssel, 25. Namur. Schon bald war ein großer Teil Belgiens und des Nordostens Frankreichs besetzt. All dies klang siegesgewiss, als wenn man die Feinde bald niederwerfen und den Krieg als Sieger beenden würde.

Auch Lottie versuchte sich selbst einzureden, dass der Krieg bald vorbei war, doch tief in ihrem Inneren glaubte sie nicht daran. Sie war froh, dass ihrer aller Tage randvoll mit Arbeit ausgefüllt waren. In ihren Briefen an Matthias bemühte sich stets um einen zuversichtlichen Ton.

„Hier in der Heimat tun alle, was sie können“, schrieb sie, „all das ist gut organisiert, denn die Hilfe soll schnell an der richtigen Stelle ankommen. Viele Freiwillige helfen bei den Suppenküchen mit, damit notleidende Personen täglich eine oder mehrere Mahlzeiten bekommen. Auch in Jakobs ‚Stübchen‘ schenken wir Essen aus. Susan schafft es immer noch, aus ganz wenig ein nährendes Gericht zu kochen. Kathi und Walter schöpfen Suppe und reichen Brot dazu.“

Freiwillige daheim

„Die Suppenküchen sind auch Auskunftstellen. Auch Jakob gibt Zuspruch und Auskunft, so gut er kann. Viel Post kommt ins ‚Stübchen‘, und Kathi verteilt sie dann weiter. Noch fährt sie der Schulz, der sonst die Weinfässer ausliefert, aber schon bald bekommt sie einen Notführerschein.

Der kleine Walter ist mir eine große Stütze auf dem Hof. Wir bauen hier viel an, wo immer eine freie Fläche ist, vor allem Kartoffeln. Und dann hilft er in der Sammelstelle beim Paketpacken der Liebesgaben: Tabak, Zigarrentaschen, Zündhölzer, Schokolade, Lebkuchen, Dauerwurst, wollene Strümpfe, Pulswärmer, Ohrenschützer, Briefpapier und was immer wir daheim für Euch an der Front auftreiben können. Die Sachen werden dann auf Kraftwagen verladen und nach Aachen gebracht, von dort geht es weiter ins Kriegsgebiet. Nach der Schule hilft Walter beim Beladen der Kraftwagen. ‚Das ist Männersache‘, hat der kleine Kerl zu den zahlreichen Damen vom Hilfsausschuss gesagt. Mein Liebling, Du wärest unendlich stolz auf unsere Kinder. Komm‘ uns heil nachhause.“

Die Wende an der Marne

Auch Matthias‘ Briefe waren zunächst verhalten zuversichtlich. Dann kam die Wende an der Marne, und der deutsche Vormarsch blieb stecken. Obwohl Matthias mit Rücksicht auf seine Familie wenig Worte gemacht hatte, spürte Lottie seine Gedanken.

„Wir haben uns in Schützengräben verschanzt. Stundenlanges Artilleriefeuer, viele Verwundete und Tote. Immer hörst Du Schreie und Du möchtest so gerne helfen, aber das wäre der sichere Tod, und Du kannst Dich nur auf dem Boden legen bleiben und beten. Ich glaube nicht, dass es bald vorbei ist. Allein der Gedanke an Euch hält mich aufrecht.“

Verlustmeldungen kamen, Reservetruppen rückten nach. Ende September erreichte die Meldung vom Tod August Mackes Bonn. Die ersten Verwundeten vom westlichen Kriegsschauplatz kamen an und wurden in den Lazaretten gut versorgt. In Hotels und große Häusern hatten man Lazarette einrichtet, auch im Hotel auf dem Petersberg und in der Bonner Beethovenhalle.

Sieg von Tannenberg

Unerwartet schnell waren schon Ende August zwei russische Armeen nach Ostpreußen vorgestoßen. Ein kleines deutsches Heer unterlag ihnen; die Zivilbevölkerung flüchtete. Doch General Paul von Hindenburg, aus dem Ruhestand zurückgeholt, und seinem Stabschef Erich Ludendorff konnten den Vormarsch der russischen Armeen Ende August in der Schlacht von Tannenberg (26.-30. August 1914) stoppen. Wenige Tage später an den Masurischen Seen siegten sie erneut.

Die russische Armee in Galizien

Kriegsgegner Österreich-Ungarns waren Russland und Serbien. In Galizien gelang den Russen im Spätsommer 1914 ein vernichtender Sieg über die k.u.k. Armee, seitdem flohen hunderttausende Menschen flohen aus dem Kriegsgebiet. Anfang September fiel die galizische Hauptstadt Lemberg, und alle Versuche, sie zurückzuerobern, scheiterten. Die k.u.k. Armee zog sich in den ungarischen Teil der Karpaten zurück. Mitte September hatte die russische Armee die zur Festung ausgebaute Stadt Przemysl eingeschlossen und griff wenige Tage später an.

Zur Entlastung der österreichisch-ungarischen Verbündeten griffen Hindenburgs Truppen die russischen Truppen im Gebiet um Warschau an. Anfang Oktober konnten österreichisch-ungarische Truppen Verstärkungen nach Przemyśl bringen, die russischen Truppen hoben die Belagerung auf.

Währenddessen waren russische Truppen erneut in Ostpreußen eingedrungen, doch wieder behielten die Deutschen die Oberhand. In der Schlacht an der Weichsel im Oktober hingegen wurden Hindenburgs Truppen geschlagen und mussten sich zurückziehen.

Antwerpen kapituliert

Am 10. Oktober 1914 hatte die Festung Antwerpen kapituliert. Die Bonner Zeitungen jubelten, und auch bei Lottie keimte ein wenig Hoffnung auf, dass der Krieg bald zu Ende gehen würde.

„Die Menschen hier sind begeistert wie zu Beginn des Krieges“, schrieb sie an Matthias, „die Glocken läuten, ganz Bonn ist in Aufruhr. Mit begeisterten Hurra-Rufen ziehen neue Truppen in den Krieg. Die Kinder hatten am Samstagmorgen schulfrei. Ganze Scharen, auch unser Walter, sind zum Bahnhof gefahren und haben ihre Butterbrote den durchfahrenden Soldaten angeboten.“

Vielleicht geht es jetzt doch bald zu Ende, ich bete jeden Tag dafür. Und Du kommst uns wieder nachhause. Aber Du wirst es verändert vorfinden, denn wir haben einen Behelfskindergarten eingerichtet. Immer mehr Männer werden eingezogen, und die Frauen übernehmen ihre Arbeitsplätze. Aber was sollen die mit kleinen Kindern tun, deren Mann an der Front ist? Der Sold ist viel zu gering, um die Familie durchzubringen, und Kinderbetreuung, auf dass sie arbeiten könnten, gibt es kaum. Emil und Lena sind den ganzen Tag damit beschäftigt, unsere kleinen Gäste zu betreuen. Manche Mamas wohnen auch bei uns. Sie müssen sehr hart arbeiten, und das unter sehr gefährlichen und gesundheitsschädlichen Bedingungen. Dabei erhalten sie für die gleiche Arbeit meist weit weniger Geld als die Männer.“

Eine Katastrophe für Österreich-Ungarn

Nach Hindenburgs Niederlage an der Weichsel musste auch die österreich-ungarischen Truppen in Galizien ihre Angriffe abbrechen. Im November 1914 belagerten russischen Truppen Przemyśl erneut. Bereits Ende 1914 befand sie sich die k.u.k-Armee in einer katastrophalen Lage, denn die Russen standen in Galizien, und selbst das kleine Serbien hatte ihr schwere Niederlagen zugefügt.

„Fast 1,3 Millionen Mann hat unsere Armee verloren“, schrieb Joscha Csabany erschüttert, „ich höre und lese es, und doch möchte alles in mir es verdrängen, es ist zu schlimm. So viele Männer haben ihr Leben gelassen. Unter ihnen viele Offiziere, und nun haben wir kaum jemanden mehr, der unsere Truppen mit ihren vielen Nationalitäten im Feld führen kann. Tausende sind in russischer Kriegsgefangenschaft. Russland ist riesig – wer weiß, wo sie sind, und ob wir sie je wiedersehen.

Auch für Papa ist es ein schwerer Schlag, er war selbst in Galizien strafversetzt und Mama hat ihn dort besucht. Nun sind die Russen dort. Wir telefonieren oft, ich weiß ihn in Wien bei Freunden noch recht gut versorgt. Er ist unglaublich. „Junge, Du must einfach daran glauben, dass es irgendwann weitergeht“, sagt er mir immer wieder. „Wenn Deine Mutter und ich das damals nicht getan hätten, gäbe es Dich und Deine Schwester heute nicht.“

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