Ein Besuch in Amerika

New York
New York

[1895/96, Amerika] Zwei Jahre nach Lorenz‘ Besuch in Deutschland ging Sophies Traum in Erfüllung. Mit ihrer Tochter Lottie und ihrem Schwiegersohn Matthias stand sie an der Südspitze Manhattans.

Ankunft in New York

An ihrer Seite waren Lorenz und Annelie Bergmann. Die beiden hatten sie überglücklich am Pier in Empfang genommen. „Dass Ihr jetzt hier in Amerika seid, und Lottie und Matt ein Jahr hier bleiben werden .. es ist einfach nur schön“, sagte Lorenz immer wieder.

Für einen Moment hingen sie ihren Gedanken nach. Auch Sophie konnte es noch gar nicht glauben, da sie nun bei Lorenz und Annelie in den USA waren. Von Bonn aus waren sie über Köln nach Hamburg gefahren, dann mit einem Dampfer der Hamburg-Amerika-Linie nach New York. Nur Lottie war bei aller Vorfreude beim Abschied etwas bang ums Herz gewesen. Würde sie ihre Großmutter Anni und ihren Großvater Jean nach dem Jahr in Amerika noch gesund und munter antreffen? Aber Anni hatte sie beruhig. Sie wollten nämlich unbedingt noch die ersten von Lottie gekelterten Weine trinken, und der Großvater würde bestimmt alles über die Hochseedampfer wissen wollen.

Sie hatten die Seereise sehr genossen: das offene Meer, das Kreischen der Möwen, die Vorfreude auf Lorenz‘ neue Heimat. Als er damals fliehen musste, war sie ein kleines Mädchen gewesen. Lorenz‘ Onkels in Amerika, Niklas und Heinrich, hatte sie nie kennengelernt, und doch waren sie und ihr Zuhause ihr seit Kindertagen vertraut, so oft hatte Opa Hubert ihr Niklas‘ herrliche Zeichnungen gezeigt und von Amerika erzählt. Das war lange her, und aus der kleinen Sophie Limbach war die Gräfin Csabany geworden, eine elegante Frau von Welt und Mutter zweier erwachsener Kinder.

Auswanderer im Zwischendeck

Sie waren bequem zweiter Klasse gereist, doch oft waren ihren Gedanken bei den Auswandern auf dem Zwischendeck. Dieses Deck hatte man eigens auf Auswandererschiffen eingeführt; es war eng und ohne jeden Komfort, aber günstig. Noch immer wagten viele Menschen die Fahrt über den Atlantik, um sich in Amerika ein neues Leben aufzubauen. In den Jahren nach dem Sezessionskrieg waren es vor allem Deutsche, Iren und Engländer gewesen. Nach dem wirtschaftlichen Aufschwung im Deutschen Kaiserreich verbesserten sich die Lebensverhältnisse, und die Auswandererzahlen gingen zurück. Dafür brachen nun zunehmend Menschen aus Süd- und Osteuropa in die USA auf. Viele, um der bitteren Not daheim zu entkommen; viele russische Juden suchten in den USA Schutz vor Progromen.

Ellis Island

Auf der Anfahrt in den New Yorker Hafen, begrüßt von „Lady Liberty“, hatten sie an Ellis Island haltgemacht. Hier mussten die Auswanderer von Deck gehen, denn seit 1892 fertigten die US-Behörden sie auf dieser Insel ab. Castle Garden, die alte Immigrantenstation, wo auch Lorenz damals amerikanischen Boden betreten hatte, war der Flut der Einwanderer längst nicht mehr gewachsen.

Dies und die zunehmend verschärften Immigrationsgesetze verlangten eine gründlichere Überprüfung, daher war man nach Ellis Island gewechselt. Sophie hatte den Auswanderern lange hinterher geblickt und leise für sie gebetet. Ihre eigene Familie hatte viel mitgemacht, und jetzt fühlte sie mit diesen Menschen. Noch immer konnten Einwanderer nach einer kurzen Befragung und medizinischen Untersuchung zurückgeschickt werden. „Abgefertigt, was für eine Bürokratensprache“, dachte Sophie, „hier entscheidet sich in wenigen Augenblicken das Schicksal ganzer Familien.“

Verschärfte Gesetze

Auch Lorenz kam immer wieder ins Grübeln, wenn er an die Einwanderer dachte. Auch so viele Jahre nach seiner eigenen Flucht fühlte er ihre Hoffnungen, aber auch ihr Bangen mit. Ihn selbst hatten damals seine Onkel Heinrich und Niklas in New York abgeholt, und die verarmte irische Familie, die er an Bord des Schiffes getroffen hatte, hatte man gleich mitgenommen. Das Leben hatte es doch noch gut gemeint mit ihm, und dasselbe wünschte er den Neuankömmlingen.

„Nicht jeder in den USA ist glücklich über diese Einwanderer“, sagte er nun zu Sophie, „viele Alteingesessene denken, dass die Süd- und Osteuropäer, anders als die Angelsachsen und Deutschen, sich nicht gut anpassen werden und unsere amerikanischen Werte nicht teilen. Viele fürchten auch Lohndumping, Überfremdung, und dass zu viele Leute in die USA kommen, die nicht selbst für sich sorgen können und überhaupt das soziale Gefüge stören. Man hat Schreib- und Lesetests eingeführt, die Bestimmungen werden zunehmend schärfer, und Chinesen ist seit 1882 die Einreise ganz verboten.“

Diese Nacht blieben sie in New York, am nächsten Tag ging es dann weiter nach Pennsylvania, zu Lorenz‘ und Annelies Landgasthof „Merry Dragon“ in der Nähe des Brandywine Creek. Dann würden sie weiter nach Virginia ins Shennandoah Valley fahren, zum Weingut der amerikanischen Bergmanns. Im Bürgerkrieg war es zerstört worden, und Emil und Lena hatten es mit aufgebaut. Gut ein Jahr würden Lottie und Matthias in den USA bleiben, dann würden ihr Vater Graf Andras Csabany und ihr Bruder Joscha sie abholen. Auch Joscha sprach immer wieder von den USA, er wollte wie sein Vater in den diplomatischen Dienst gehen und träumte vom Dienstort Washington.

Die Millionenstadt New York

Von der Südspitze Manhattans gingen sie durch den Battery Park zu ihrem Hotel. New York war längst eine Millionenstadt. Sophie war zwar weitgereist, doch verglichen mit dieser Metropole waren ihre Heimat am Rhein, ja sogar Brüssel, Wien und Budapest bestenfalls Städtchen. „Auch Philadelphia hat jetzt über eine Million Einwohner“, sagte Lorenz, „vieles, sehr vieles hat sich in den letzten Jahren getan. Industrie und Wirtschaft prägen das Leben in den USA, wie auch Deutschland zum Industrieland geworden ist. Von Bell, Edison, Carnegie, Westinghouse, Vanderbilt und Rockefeller habt ihr bis über den Atlantik gehört. Gilded Age, also vergoldetes Zeitalter, nennen es die Amerikaner.“

Zum Abendessen luden Lorenz und Annelie sie in ein schönes Restaurant ein, von dem aus sie das Meer sehen konnten. Sie machten viele Pläne für ihren Aufenthalt in Amerika, prosteten sich immer wieder zu und freuten sich unbändig, hier in Amerika zusammen zu sein.

Plötzlich gab sich Lorenz, der grauhaarige ältere Herr, ans Kichern. Annelie stieß in unter dem Tisch mit dem Fuß an. „Sollen wir mal bei Carl Schurz klingeln?“ fragte er mit einem schelmischen Blick, „der lebt nämlich seit einiger Zeit in New York.“ Und doch wussten sie, dass sie sich das nicht getraut hätten – wie damals 1849 auf den Versammlungen der Bonner Demokraten, als sie sich stets in respektvoller Entfernung von den Ehrengästen Kinkel und Schurz gehalten hatten. Fast fünfzig Jahre war das nun her .. Nun musste auch Sophie lächeln. Sie hob ihr Glas. „Auf Ihr Wohl, Herr Schurz“, sagte sie und nahm einen Schluck, „auf das Wohl der alten und neuen Heimat, und mögen beide immer in Frieden und Freundschaft einander verbunden sein.“

Die junge Generation

Anderthalb Jahre später waren Lottie und Matthias zurück – glücklich und dankbar für ihre schöne Zeit in den USA, und ebenso, ihre Lieben daheim gesund vorzufinden. Nun würde die junge Generation – Lottie und Matthias, Susan und Etienne – übernehmen, und Emil und Lena konnten etwas kürzer treten. Es gab es großes, feuchtfröhliches Fest. Anni und Jean, beide hochbetagt, saßen in der Mitte der Festtafel und strahlten in die Runde. Nach all den Jahren der Not waren ihre Kinder und ihre Enkel glücklich, und ihr guter Freund Jakob in ihrem „Stübchen“ war es auch. Es war alles gut so.

Einige Monate verstarb Anni, umgeben von ihren Lieben, wenig später auch ihr Mann Jean.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*