[Rheinprovinz, 1914/15] Niemand war auf einen langen Krieg vorbereitet. Jakob hörte noch die siegessicheren Rufe „zu Weihnachten sind wir wieder hier“. Seine Vorräte im „Stübchen“ gingen zur Neige.
Nach 1866 und 1870/71 war man war sicher, dass der Krieg kurz sein würde. Doch seit der Wende an der Marne Anfang September 1914 musste man diese Hoffnung aufgeben. Jakob schaute sich in seinem „Stübchen“ um. Ein Kolonialwarenladen war es längst nicht mehr; seine letzten Kakaovorräte hatte er für das Weihnachtsfest weggepackt.
Hilfsprogramm für die „Heimatfront“.
In der Heimat hatte man ein umfassendes Hilfsprogramm aufgebaut. Man kümmerte sich um die Familien der Soldaten, sammelte Geld, Wäsche und Naturalien für sie, vermittelte Arbeit und Hilfe in allen Notfällen, verteilte Lebensmittel an Bedürftige und war für die Familien Verwundeter oder Gefallener da. Alles war gut organisiert vom Roten Kreuz, dem Vaterländischen Frauenverein, dem Hilfsausschusses für durchfahrende Truppen und anderen Verbänden, damit die Hilfe schnell an der richtigen Stelle ankam.
Seeblockade
Seit Beginn des Krieges schnitt eine Seeblockade Englands das Deutsche Reich von Einfuhren jeder Art ab, denn die Alliierten wollten die Deutschen durch Aushungern mürbe mache. Doch das siegessichere Kaiserreich, bislang der weltweit größte Importeur von Agrarerzeugnissen, hatte keine Vorräte für den Krieg angelegt. Die arg gebeutelte deutsche Landwirtschaft konnte die fehlenden Importe nicht auffangen, daher wurden die bald Lebensmittel knapp und die Preise stiegen stark an.
Ganz besonders traf es die Grundnahrungsmittel Brot und Kartoffeln, und manche Händler verlangten Wucherpreise für Kartoffeln. Die Behörden mussten einschreiten und setzten schließlich Höchstpreise fest. Manche Regelung aber bewirkte, dass es den Bauern mehr brachte, Kartoffeln und Getreide zu verfüttern oder an Brennereien zu verkaufen, als sie auf den Märkten zu den festgesetzten Preisen zu verkaufen.
Kriegskekse
Auf dem Bergmannschen Weingut bauten sie auf jedem freien Fleckchen Kartoffeln an. Die Familie war zusammengerückt und hatte einen Behelfskindergarten eingerichtet, auch einige Mamas wohnten bei ihnen. Susan und auch ihre hochbetagten Eltern Emil und Lena Bergmann waren den ganzen Tag beschäftigt, die kleinen Gäste zu betreuen.
Eben hatte Susan Kekse gebacken. Nun holte sie einen einfachen Tonteller aus dem Schrank. Er war fast vierzig Jahre alt und hatte eine ganze besondere Geschichte. Damals war sie mit ihren Eltern zur Hochzeit von Lorenz Bergmanns Tochter Amber auf das Weingut der amerikanischen Bergmanns gereist, und hatte einmal mit den anderen Kindern getöpfert. „Jetzt wo wir so viele in der Familie sind, haben wir nicht genug Teller und Tassen für alle“, hatte sie damals gesagt. Das galt auch heute. Mit einem wehmütigen Lächeln belud sie den Teller mit den Keksen. Oder was man so Kekse nannte in dieser Zeit, wo es keinen Zucker, keine Butter und auch sonst kaum etwas gab.
Warme Mahlzeiten und Streuobst
Im Gastraum des „Stübchens“ gab es täglich eine oder mehrere warme Mahlzeiten, Suppen oder Eintöpfe. Bald reichten die Tische drinnen nicht mehr, so hatte Jakob draußen einen großen Tisch aufgebaut und stellte darauf die großen Kochtöpfe ab. Kathi und Walter schöpften die Suppe oder den Eintopf und reichten Brot dazu.
Zum Glück hatte Jakob gleich an das Streuobst im Siebengebirge gedacht. Walters ganze Schulklasse war unterwegs gewesen, Äpfel und Birnen zu sammeln. Dann hatten Lottie, Lena und viele andere Frauen in großen Mengen Obst, Gelee und Obstkraut als Ersatz für Butter und Margarine eingekocht. Vieles davon konnte er nun zum Selbstkostenpreis abgeben.
Helenes Nähstube
Im anderen Raum, dem Ladenraum, standen nun auch zwei Nähmaschinen. Wäsche und Kleidung wurde dringend gebraucht, und so konnten sich stellenlose Mädchen und Frauen wenigstens ein bisschen verdienen. In dieser schweren Zeit hatten viele ihren Arbeitsplatz verloren. Viel konnte Jakob ihnen nicht zahlen, dafür bekamen sie ihre Mahlzeiten und im Winter würde immer geheizt sein.
Seit kurzem war Helene da, eine ältere Witwe. Auch sie bangte um einen Sohn an der Front. Das Geld reichte hinten und vorne nicht, und so war sie froh um die Arbeit im „Stübchen“. Jakobs Gesellschaft und die Gewissheit, dass ihre Arbeit anderen half, taten ihr gut. „Es ist wie damals zu Zeiten von Oma Limbach“, dachte Jakob. Diese alte Dame hätte er gerne kennengelernt!
Kathi, die Automobilistin
Kathi fuhr mit dem Automobil umher, um Lebensmittel in den umliegenden Dörfern zu verteilen. Zum Glück war die Versorgung der Menschen daheim auch wichtig, so hatte man ihr Automobil nicht im Rahmen der Kriegswirtschaft eingezogen.
Draußen hupte es – da war sie schon. Lotties bildhübsche Tochter Kathi, die ihn sehr an ihre verstorbene Großmutter Gräfin Sophie Csabany erinnerte. Dass ein Mädchen wie Kathi ein Automobil fuhr, wäre bis vor dem Krieg eine Sensation gewesen. Doch nun mussten die Frauen nachrücken und übten Männerberufe aus. Sie bedienten Maschinen in der Industrie, vor allem der Rüstungsindustrie, fuhren Straßenbahnen und Automobiles. Kathi versorgten die Menschen in den Dörfern mit Lebensmitteln und Nachrichten von ihren Lieben. Oft genug war sie dabei auf Straßen unterwegs, die diesen Namen kaum verdienten.
„Hast Du noch Nachrichten und Post zu verteilen, Jakob?“ fragte sie. Längst war das „Stübchen“ auch Auskunftsstelle. Telefonanrufe gingen hier ein, Post für Menschen in den Dörfern im Berggebiet wurde abgeliefert, die Kathi dann mit dem Automobil weiter verteilte. „Hier hast Du sie, Kathi“, sagte Jakob, und Kathis Eifer entlockte ihm immer wieder ein Lächeln. „Von Leutnant Schmieder ist wieder ein dicker Umschlag zur Verteilung an die Angehörigen seiner Einheit dabei. Und wenn Du Marie siehst, gib‘ ihr bitte dieses Glas Apfelkompott, und sie soll es auch aufessen“, sagte er. „Wird gemacht, Jakob“, sagte Kathi, packte ihre Fracht zusammen, umarmte den alten Herrn und brauste davon.
Krieg auch in Ostafrika
Jakob ahnte, dass es noch viel schlimmer kommen sollte. Im nächsten Jahr würde man viele Lebensmittel wohl nur noch auf Lebensmittelmarken bekommen.
Ab und zu blickte er hinauf zu dem Bild des Dinosauriers aus Tendaguru, davon hatte er sich nicht trennen können. Tendaguru lag in Deutsch-Ostafrika, und auch dort wurde erbittert gekämpft. All die Zeit hatte er darauf geachtet, dass seine Handelspartner ehrenhafte Kaufleute waren, die nicht vom Leid anderer profitierten. Nun würden wohl auch dort unzählige Menschen in den Krieg gezwungen werden. „Ich bete auch für Euch“, sagte er leise.
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