Deutsche Weltpolitik

Neues Palais, Potsdam, Wilhelm II.
Neues Palais, Potsdam, Wilhelm II.

[Deutsches Reich, um 1907] Die Außenpolitiker des Kaisers verkündeten Deutschlands Streben nach Weltgeltung ganz offiziell. Joscha Graf Csabany, Sophies erwachsener Sohn, kam an die Botschaft Österreich-Ungarns in Berlin.

Seit kurzem lebte der junge Graf Joszef „Joscha“ Csabany in der Hauptstadt des Deutschen Reiches. Das war ein guter Posten für einen jungen Diplomaten, fand sein Vater. Csabanys waren inzwischen geachtete Leute, und von dem langjährigen Botschafter Szögény könnte er eine Menge lernen.

Frieden in der Mitte Europas

Joscha kam gerne zu Besuch an den Rhein, dann wohnte er bei seiner Schwester Lottie, ihrem Mann Matthias und den beiden Kindern Kathi und Walter. Jedesmal fuhr er eine Tour auf der „Aimée“ mit. Das war ein schöner Ausgleich zur hektischen Weltstadt Berlin, und er genoss die Gespräche mit Hans und Etienne. Die beiden fuhren seit Jahren Gäste von überall her, sie hörten, was sie erzählten, und wie sie das Zusammenleben hier in der Mitte Europas empfanden.

Seit 1906 war George Clemenceau Ministerpräsident in Frankreich. Er hatte familiäre Verbindungen nach Österreich, doch dem Deutschen Reich stand er unversöhnlich gegenüber. Die Niederlage 1870/71 und den Verlust Elsass-Lothringens hatte er nie verwunden. Aber Clemenceau sprach nicht für alle seine Landsleute, meinte Etienne. Schon Kaiser Wilhelm I. hatte Zugeständnisse gemacht, und inzwischen stimmten bei den Reichstagswahlen immer mehr Wähler für die Reichsparteien, allen voran SPD und Zentrum, während die Autonomisten und Protestler verloren. Das stimmte doch optimistisch für einen dauernden Frieden am Rhein.

Deutschlands „Platz an der Sonne“

An diesem Frühjahrstag war Joscha wieder zu Besuch am Rhein. Gerade saß er mit seiner Nichte Kathi und seinem Neffen Walter über einer Weltkarte. „Tsing-tao“, begann er und zeigte auf einen Ort im fernen Ostasien, „das liegt hier an der Küste Chinas. Und hier seht Ihr Kaiser-Wilhelm-Land auf Neu Guinea, den Bismarck-Archipel, Marshall-Inseln, die Karolinen, die Marianen, Palau und Westsamoa. Nun nach Afrika ..“ „Da weiß ich Bescheid“, unterbrach ihn der kleine Walter stolz. „Jakob hat uns Ostafrika und all die Länder gezeigt, wo unser Kakao und unser Kaffee herkommt, den ich noch nicht trinken darf.“ „Und er sagt immer dazu, dass die Menschen dort sehr hart arbeiten, damit wir so leckeren Kakao kriegen, und dass wir gute Gedanken zu ihnen schicken sollen.“ ergänzte seine Schwester Kathi. Walter nickte zustimmend. „Das tun wir auch“, sagte er, „immer“.

„Guter, ehrenwerter Jakob“, dachte Joscha. Auch er kannte den langjährigen Diener der Csabanys von Kindesbeinen an, und ihm wurde warm ums Herz. Jakob hatte mehr Ehre im Leib als mancher Hochgeborene im ganzen Deutschen Reich und in ganz Österreich-Ungarn zusammen. „Jakob ist ein sehr kluger und sehr ehrenwerter Mann“, sagte er zu den beiden, „wir können sehr stolz auf ihn sein.“

Keine Großmacht will zurückstehen

Doch der Zeitgeist war ein anderer, das wusste Joscha wohl. Keine Großmacht wollte zurückstehen, während sich die anderen die Welt untereinander aufteilen. Kaum jemand hatte Skrupel, Völkern, die sich nicht wehren konnten, mit Gewalt ihr Land wegzunehmen. Man sah es noch nicht einmal als deren Land, sondern als Flecken auf der Landkarte, den noch keine andere Großmacht für sich in Besitz genommen hatte. Übersteigertes Prestigedenken, ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein und knallharte wirtschaftliche Interessen standen dem entgegen. Wer jetzt nicht seine Rechte durchboxte, lief Gefahr, seinen Status als Weltmacht zu verlieren und wirtschaftlich ins Hintertreffen zu geraten.

Bismarck hatte Kolonien nichts abgewinnen können. Seine ganze Außenpolitik war auf die Absicherung des Reiches ausgerichtet, doch für die nachrückenden Generationen war das längst nicht genug. Der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein, der 1891 gegründete Alldeutsche Verband und der 1898 gegründete Deutsche Flottenverein forderten eine expansivere Kolonialpolitik. Ab 1897 verkündeten die Außenpolitiker in der Berliner Wilhelmstraße Deutschlands Streben nach Weltgeltung ganz offiziell, wenig später sagte Reichskanzler von Bülow, „auch Deutschland wollte seinen Platz an der Sonne“. Doch da war die Welt fast schon „verteilt“. Man hatte die chinesische Hafenstadt Tsingtao auf 99 Jahre gepachtet und 1899 die Karolinen, die Marianen, Palau und 1900 Westsamoa erworben. Die verstreut liegenden Kolonien kosteten den Steuerzahler mehr als sie einbrachten, und die wenigsten Auswanderer zog es dorthin.

Das Deutsche Reich gerät in die Isolation

Für Bismarck waren die deutschen Kolonien lediglich Handelsstützpunkte gewesen, für Kaiser Wilhelm II. waren sie auch Militärstützpunkte. Trotz der angespannten Lage verkündete er die deutschen Ansprüche auf Weltgeltung laut und säbelrasselnd. Schlimme Reden wie die „Hunnenrede“ während des Boxeraufstandes in China 1900 trugen entscheidend dazu bei, dass ein hässliches Bild vom Kaiser und den Deutschen entstand. Zugleich begann unter Admiral von Tirpitz ein gewaltiges Flottenbauprogramm; eine imponierende Kriegsflotte sollte entstehen und mögliche Gegner der deutschen Weltpolitik abschrecken.

Nach den langen Jahren der Zurückhaltung unter Reichskanzler Bismarck machte der plötzliche Umschwung in der Außenpolitik des Reiches, das „Streben nach Weltgeltung“, die anderen Mächte misstrauisch. Doch die Entscheidungsträger in der Berliner Wilhelmstraße glaubten, Deutschland könnte eine „Politik der freien Hand“ betreiben. Das hieß, es müsste sich an keine Großmacht fest binden, sondern könnte sogar die anderen gegeneinander ausspielen. Eine Annäherung zwischen Russland und Frankreich, Bismarcks Albtraum, schien den neuen Herren im Auswärtigen Amt weniger bedrohlich, so hatte man den Rückversicherungsvertrag mit Russland nicht verlängert.

Deutschland und England

England schien ihnen der „natürliche“ Verbündeter Deutschlands, da es in Asien mit Russland und in Afrika mit Frankreich um Kolonialbesitz stritt. Nun, da die Konkurrenz zwischen den Mächten immer schärfer wurde, wollte auch England sein riesiges Kolonialreich sichern und brach mit seiner bisherigen Politik der „splendid isolation“. Also würde England „schon kommen“, dachte man. Kaiser Wilhelm II. selbst war „auch Brite“, wie er selbst sagte, und hatte glückliche Tage bei seiner geliebten Großmutter mütterlicherseits, Queen Victoria, verbracht.

Doch nach ihrem Tod traute ihm dort kaum jemand über den Weg, das gewaltiges Flottenbauprogramm spielte den Kräften im britischen Außenministerium die Trümpfe in die Hand, die längst für eine Allianz mit Frankreich und Russland waren. Gerade hatten sich England mit Frankreich über den Kolonialbesitz in Afrika verständigt und 1904 ein Bündnis geschlossen, die „Entente cordiale“.

Erste Marokko-Krise

Walters Stimme riss Joscha aus seinen Gedanken. „Und Tanger, wo der Kaiser gerade war, wo liegt das?“ „Hier, in Marokko“, sagte er und zeigte auf die richtige Stelle in Nordafrika. Marokko war Sultanat und eines der wenigen unabhängig gebliebenen Länder. Dort wollten sich deutsche und französische Rüstungskonzerne die reichen Erzvorkommen des Landes und den profitablen Waffenhandel sichern. Als Frankreich 1905 seinen Einfluss in Marokko stärken wollte, nutzte Kaiser Wilhelm II. eine seiner vielen Reisen und ritt selbst in Tanger ein, um dem Sultan den Rücken gegen Frankreich zu stärken.

Doch auf der anschließenden Konferenz von Algeciras schlugen sich England, Russland, die USA und sogar Italien auf Frankreichs Seite, allein Österreich-Ungarn unterstützte Deutschland. Es war ein arge Schlappe für die Außenpolitiker in der Berliner Wilhelmstraße, die gehofft hatten, die Entente auseinander zu bringen. Großbritannien baute nun seine Schlachtflotte weiter aus. Zu allem Übel aus deutscher Sicht fanden England und Russland einen Ausgleich über ihre kolonialen Interessen in Zentralasien, mit dem Anschluss Russland 1907 an England und Frankreich entstand die „Triple Entente“.

Eine Mélange

„Nun lass‘ ihn mal“, sagte Kathi schließlich, „Onkel Joscha ist doch Diplomat für den Kaiser von Österreich-Ungarn, Seine Apostolische Majestät Franz I. Joseph in Wien, nicht für Kaiser Wilhelm II. in Berlin.“ Joscha schmunzelte. „Schon gut, schon gut“, sagte er, „es sind ja Verbündete. Und wir sind eine große, weitverzweigte Familie, und Ihr seid eine ganz exquisite Melange, wie die Wiener sagen. Über Euren Papa Rheinländer, über Eure Mama Rheinländer und Österreicher und Ungarn, und ein ganz klein bisschen auch Belgier. Lasst uns stolz darauf sein!“ Kathi strahlte. „Das sind wir auch“, sagte sie, „Oma Sophie sagte immer, dass sich Heimatliebe und Weltoffenheit nicht ausschließen. Und ich denke auch, dass Vater Rhein sehr böse mit uns sein würde, wenn wir engstirnige Menschen würden.“

Es waren schöne Tage. An solchen Tagen mochte man denken, dass die schöne friedliche Zeit, die Aufschwung, Erfindungen und kulturelle Blüten brachte, für lange Zeit andauern würde. Oder wenigstens, dass man die latenten Konflikte friedlich würde beilegen können.

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