[USA, 1917] Entsetzt blickte Lorenz Bergmanns Enkelin Chiara auf die Liberty Bonds, die sie eben kaufen wollte. Darauf war ein Wesen mit Pickelhaube abgebildet, damit offensichtlich ein Deutscher.
Es war völlig entmenschlicht, und auch ein Gorilla sah nicht so aus. Eher so, wie man sich die Monster aus den Gruselfilmen vorstellte. „Halt the Hun!“ las sie, und auf einem anderen „Remember Belgium“. Doch dieser „Hunne“ hatte nichts gemein mit ihrem geliebten Großvater Lorenz Bergmann, der vor so vielen Jahren aus Deutschland in die USA gekommen war. Dort hatte er Annelie geheiratet. Beide waren seit einigen Jahren tot. Auch sie hatte deutsche Vorfahren, ihre Kindheit hindurch hatte sie Bilder von der fernen Heimat ihres Großvaters gesammelt und in ein Album geklebt. Zu gerne wäre sie selber einmal hingereist, doch das schien nun unmöglich.
Rape of Belgium
Die Vereinigten Staaten unter Präsident Woodrow Wilson waren bislang neutral geblieben. Im Gegenteil, im Wahlkampf 1916 hatte der Spruch: „He kept us out of war!“ („Er hielt uns vom Krieg fern!“) viele Menschen für Wilson eingenommen. Sicher standen die demokratischen USA den demokratischen Regierungen der Entente näher. Bei Kriegsbeginn hatten die Entente-Mächte Kriegsanleihen in den USA aufgenommen, und die Ausfuhr nach England und Frankreich auf dem Seeweg war um das Dreifache gestiegen. Ein Hauptanliegen Präsident Wilsons war das Selbstbestimmungsrecht der Völker.
Doch inzwischen war einiges geschehen. Seit dem deutschen Überfall auf das neutrale Belgien machten schreckliche Berichte über das brutale Vorgehen der Deutschen die Runde: dass sie aus Furcht vor irregulären Kämpfern, den Franc-tireurs, Tausende von Zivilisten ermordeten und ganze Orte nach der Eroberung in Schutt und Asche gelegt hatten. Allein In Dinant waren fast 700 Menschen, unter ihnen Kinder und Greise, bei Massenexekutionen getötet worden. In der alten Universitätsstadt Löwen hatten die deutschen Truppen mehr als 200 Menschen umgebracht und Teile des Landes verwüstet, auch die Bibliothek hatten sie angezündet. Daher sprach man vom „Rape of Belgium“.
Die Menschen im besetzen Belgien litten Hunger. Hunderttausende flohen, vor allem in die Niederlande. Herbert Hoover (der spätere US-Präsident), gründete die Commission for Relief in Belgium, die mit Lebensmittelhilfen wesentlich zum Überleben der Zivilbevölkerung beitrug. Die Deutschen wüteten „wie die Hunnen“, druckte man auf die Werbeplakate in Großbritannien. In den USA, bislang noch neutral, kippte die Stimmung gegen Deutschland.
Uneingeschränkter U-Boot-Krieg und Zimmermann-Telegramm
Dann, am 7. Mai 1915, war das britischen Passagierschiff RMS Lusitania vor Südirland durch deutsche U-Boote versenkt worden. Unter den Opfern waren auch amerikanische Staatsbürger. Die USA hatten scharf protestiert und ihrerseits mit Krieg gedroht. Trotzdem hatte das Deutsche Reich im Februar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg ausgerufen; im Kampf gegen die Blockade wurden Schiffe der Entente ohne Vorwarnung torpediert und versenkt, auch viele amerikanische Staatsbürger kamen ums Leben.
Schließlich hatten die Briten Mitte Januar 1917 ein verschlüsseltes Telegramm des Unterstaatssekretärs im Auswärtigen Amt, Arthur Zimmermann, an den deutschen Gesandten in Mexiko abgefangen. Schon die ersten entschlüsselten Passagen waren brisant: Deutschland beabsichtigte, am ersten Februar den uneingeschränkten U-Boot-Krieg zu beginnen. Es wollte Amerika trotzdem neutral halten. Sollte dies nicht gelingen, bot Deutschland der Regierung von Mexiko ein Bündnis zur Rückgewinnung des 1848 an die USA verlorengegangenen Territoriums an.
Am 1. April berichtete die „New York Times“ über das deutsche Angebot und veröffentlichte den Text der Depesche. Die Regierung und die Öffentlichkeit waren äußerst empört, seitdem traute man der deutschen Regierung so gut wie alles zu. Dass Zimmermanns Angebot zum Bündnis gegen die USA über deren eigenes, im Vertrauen überlassenes Kabel gegangen war, empörte die USA noch mehr.
Zimmermanns Telegramm in Verbindung mit dem uneingeschränkten Seekrieg bestärkte Präsident Woodrow Wilson in seinem Entschluss, gegen Deutschland in den Krieg einzugreifen. Auch viele Politiker und Bürger hielten es nun für richtig, gegen ein als aggressiv angesehenes Deutsches Reich in den Kampf zu ziehen. Am 6. April 1917 erklärten die USA Deutschland den Krieg.
Eine schwere Zeit für Deutschamerikaner
Für Chiara und die viele Deutschamerikaner begann eine schwere Zeit. Die meisten von ihnen blieben neutral und sprachen sich gegen amerikanische Waffenlieferungen nach Europa aus. Dennoch wurden sie verdächtigt, mit Deutschland und den Mittelmächten zu sympathisieren. In manchen Gegenden wurde 1917/18 sogar der Deutschunterricht verboten, deutschsprachige Schulbücher wurden verbrannt. 26 Bundesstaaten erließen Gesetze gegen den Gebrauch der deutschen Sprache. Unter dem Alien Enemies Acts wurden Deutsche, die in den USA lebten, gelegentlich auch verhaftet und interniert. Deutschamerikaner mussten beweisen, dass sie als US-Bürger lebten, dachten und fühlten, nicht als Untertanen des Kaisers im fernen Deutschland.
Auch die Diskussion um die Einführung der Prohibition, ein landesweites Alkoholverbot, wurde zunehmend politisch. Die meisten Brauereien in den USA wurden von deutschen oder österreichischen Auswanderern betrieben, der Weinbau vor allem von Italienern, doch auch von deutschstämmigen wir Chiaras Verwandten auf dem Mountain Men Weingut im Shennandoah Valley in Virginia. Ein landesweites Alkoholverbot würde ihre Existenz gefährden.
John zieht in den Krieg
Schlimmer noch, bald musste auch Chiara ihren Mann John ziehen lassen. Er war Dozent an der Militärakademie in West Point. Auch ihm fiel der Abschied schwer. „Viele meiner jungen Männer sind schon auf dem Weg nach Europa“, sagte er, „da kann ich sie doch nicht im Stich lassen.“
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