[Rheinprovinz, 1924] Das Krisenjahr 1923 hatte tiefe Spuren hinterlassen. Während des passiven Widerstandes hatten die Menschen monatelang gekämpft, Entbehrungen ertragen und dem zermürbenden Druck standgehalten.
Und nun sah es so aus, als wäre alles umsonst gewesen, denn kein einziger ausländischer Soldat war abgezogen. Viele Betriebe, die man während des passiven Widerstandes mit Reichskrediten über Wasser gehalten hatte, hatten inzwischen schließen müssen. Kaum jemand hatte Arbeit, und die verheerenden Inflation hatte unzählige Menschen in den Ruin getrieben.
Einbruch der politischen Mitte
Das Krisenjahr 1923 hinterließ tiefe Spuren, denn bei der Reichstagswahl vom Mai 1924 brachen die Parteien der demokratischen Mitte und die gemäßigte Rechte ein. Wahlsieger waren die Deutschvölkischen am rechten und die KPD am linken Rand. Die rechte DNVP war nun die zweitstärkste Partei, fast gleichauf mit der SPD. Die wiederum erreichte nur noch die Hälfte ihrer Wähler von 1919, die USPD gab es nicht mehr. Die ehemals starke Stellung der Arbeiterparteien schwand. Reichskanzler Marx regierte in einer sehr schwierigen Zeit.
Kathi mochte den Reichskanzler aus Köln, der so gar kein Mann für die großen Auftritt war. Dafür war er ehrlich, korrekt, auf Ausgleich in seiner eigenen Zentrumspartei und mit den Koalitionspartnern bedacht. Brauchte man nicht genau diese Menschen in einer solch schwierigen Zeit, in der das Land am Rande des Ruins stand, und die Republikaner nach den ersten Jahren schon so viel Boden verloren hatten?
Zur Verteidigung der Republik, auch als Folge der schlimmen Ereignisse von 1923, hatten Mitglieder der SPD, des Zentrums, der DDP und der Gewerkschaften im Februar 1924 das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold gegründet. Auch Matthias und Max waren dabei. Doch auch die Republikfeinde waren paramilitärisch organisiert; die Nationalsozialisten hatten die SA, die KPD ihren Rotfrontkämpferbund.
Aber noch hatte Reichskanzler Marx eine Mehrheit, und es war kein Zeitpunkt zum Aufgeben. Vielmehr standen Verhandlungen mit den Alliierten an, denn inzwischen waren die internationalen Sachverständigenausschüsse zur Überprüfung der Zahlungsfähigkeit Deutschlands mit ihrer Arbeit fertig. Im April 1924 legte der amerikanische Finanzexperte Charles Gates Dawes einen neuen Reparationsentwurf vor, den nach ihm benannten Dawes-Plan.
Der Dawes-Plan
Im Juni 1924 reisten Reichskanzler Marx, Außenminister Stresemann und Reichsbankspräsident Schacht zu einer internationalen Konferenz nach London. Alle warteten gespannt auf Nachrichten von der Konferenz. Dann kam die deutsche Delegation zurück, und Marx berichtete im Reichstag. „Deutsches Land von der Besetzung durch fremde Truppen zu befreien“ war ihrer aller oberstes Ziel gewesen. Doch nein, es war nicht gelungen, alles durchzusetzen, aber die Verständigung war weiter fortgeschritten.
Der Dawes-Plan verpflichtete Deutschland zu gewaltigen jährlichen Zahlungen, die sich ab 1928 steigern sollten; damit waren die Interessen der Alliierten gesichert. Die deutsche Währung und die deutsche Wirtschaft sollten durch den Dawes-Plan stabilisiert werden; Deutschland würde amerikanische Anleihen als Starthilfe bekommen. Der französische Präsident hatte zugesagt, dass die nach dem 11. Januar außerhalb des Ruhrgebietes besetzten Ortschaften und Landstreifen geräumt würden. Auch die Sanktionsgebiete von 1921, Düsseldorf und Duisburg, sollten freigegeben werden.
Das war längst noch nicht alles, aber dieser Vertrag über die Reparationszahlungen war ein wichtiger Schritt von absoluter Konfrontation und Besatzung hin zur Verständigung, und auf weitere konnte man nun hoffen. Marx drängte im Reichstag auf die Unterzeichnung, und eine Mehrheit stimmte zu. Am 16. August 1924 wurde in London unterschrieben, am 1. September 1924 sollte der Dawes-Plan in Kraft treten, im Oktober der Abzug beginnen.
Hoffnung – Reichsmark und Abzug
Auf dem Weingut Bergmann organisierte Walter ein Fest für alle Freunde und Bekannten. Da waren sie, die Hoffnungszeichen, endlich würde es bergauf gehen. Schon Ende Februar 1924 war der Ausnahmezustand aufgehoben worden. Die neue, provisorische Rentenmark stabilisierte sich schnell.
Am 30. August 1924 würde ein neues Bankgesetz in Krafttreten. Es regelte das Währungssystem mit der Einführung der Reichsmark, gedeckt durch Gold, endgültig. Und auch im besetzten Gebiet wurde an diesem Tag die goldgedeckte Reichsmark eingeführt.
Lottie holte einige Flaschen des herausragenden 1921er Jahrgangs. Wie viele andere Weingüter hatten sie in den vergangenen Jahren 1922 und 1923 nur wenig davon verkauft, zu groß war der Verlust durch die verheerende Geldentwertung. Sie würde ihn auch weiter sparsam verkaufen, wer wusste schon, was noch auf sie alle zukam? Doch heute war Grund zur Freude, und Anlass genug für den 1921er Jahrhundertjahrgang.
Kathi las aus der Zeitung vor, was Reichskanzler Marx im Reichstag gesagt hatte. „Der französische Präsident Herriot hat zugesagt, dass die nach dem 11. Januar außerhalb des Ruhrgebietes besetzten Ortschaften und Landstreifen geräumt werden. Rheinaufwärts und rheinabwärts .. die besetzten Ortschaften und Landstreifen, das sind auch wir!“
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